Vom Umgang mit der Wut

 

Fast alle Eltern von Asperger-Kindern können ein Lied davon singen, wie sich ein Wutanfall oder Zusammenbruch (auch als Meltdown bezeichnet) des eigenen Kindes anhört und anfühlt. Bis zu einem gewissen Grad gehören Wutanfälle zur kindlichen Entwicklung dazu. Wer kennt nicht den Ausdruck «the terrible two» oder «die Wackelzahnpubertät»? Ausmass, Dauer und Intensität der Wutanfälle sind bei vielen Asperger-Kindern aber deutlich stärker ausgeprägt als bei einem neurotypischen Kind und häufig nicht altersangemessen. Nicht selten stösst man im näheren und weiteren Umfeld auf Unverständnis und Kopfschütteln. Dies macht die Situation nicht einfacher. Als Mutter oder Vater eines Asperger-Kindes braucht man nicht nur Nerven wie Drahtseile, sondern auch eine sehr dicke Haut.

Aber nicht nur für die Eltern, sondern auch für die Geschwister bedeuten die Zusammenbrüche und die unbändige Wut häufig einen Leidensdruck. Und ganz wichtig: auch das Asperger-Kind selber leidet unter der Situation.

Wie kommt es überhaupt zu diesen Wutausbrüchen? Und gibt es ein Rezept, um die Wut zu zähmen? Darauf möchte ich in diesem Blog eingehen.

Ursachen

Wie bereits in anderen Blog-Artikeln beschrieben, nimmt ein Kind mit einer ASS-Diagnose die Welt sehr viel intensiver wahr als seine neurotypischen Altersgenossen (siehe dazu auch «Asperger und Hypersensibilität»). Reize prasseln ungefiltert auf das Gehirn ein und können nicht schnell genug verarbeitet und eingeordnet werden. Dies führt zu einer Überlastung und einer Überreizung, welche das Kind überfordern. In so einer Situation fehlt nur noch der Funke im Pulverfass, um es zum Explodieren zu bringen. Zudem braucht ein Gehirn, das immer auf Hochtouren läuft, sehr viel Energie. Dies führt schnell zu einer Unterzuckerung. Gepaart mit zu wenig Schlaf ist es eigentlich nicht verwunderlich, wenn ein Asperger-Kind besonders dünnhäutig ist. Der nächste Wutanfall liegt nur ein falsches Wort oder eine kleine Veränderung im Tagesablauf entfernt. Ich denke, jedem Erwachsenen ginge es ähnlich, wenn er oder sie mit seiner Energie ständig dermassen am Limit laufen würde.

Dies ist aber nur der Anfang. Was danach kommt, ist häufig ein nicht enden wollender Wutanfall oder Zusammenbruch. Man weiss aus der Forschung, dass Kinder mit ASS keine guten selbstregulierenden Mechanismen besitzen. D.h. sie brauchen länger als neurotypische Menschen, um aus einer emotionalen Ausnahmesituation herauszufinden. Dies erklärt, weshalb es manchmal sehr lange dauert, bis sich das Kind beruhigen kann. Mit wachsendem Alter verbessert sich die emotionale Selbstregulation. Bis dahin braucht es von Seiten des Umfelds starke Nerven und vor allem unendlich viel Geduld. Auch für das betroffene Kind selbst ist so ein Wutanfall kräfteraubend. Es tut dies sicher nicht, um seine Eltern zu ärgern.

Diese Strategien können Ihrem Kind helfen, schneller wieder aus einem Wutanfall herauszufinden:

Ruhe bewahren

Versuchen Sie, Ruhe zu bewahren und sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind nicht sich selbst oder jemand anderen verletzt.

Nicht auf das Kind einreden

Wenn ein Kind einen Zusammenbruch oder Wutanfall hat, macht es wenig Sinn, an seine Vernunft appellieren zu wollen. In dieser Gefühlslage hat der Teil des Gehirns, der für das rationale Denken und Handeln zuständig ist, nicht mehr die Oberhand. Redet man in diesem Zustand auf das Kind ein, wird es nur noch wütender, weil es durch das Zutexten es Erwachsenen überfordert ist und keine Chance hat, wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Deshalb ist man am besten einfach still.

Rückzugsmöglichkeiten und Ruheinseln schaffen

Vielleicht ist Ihr Kind schon selbst in der Lage, sich in sein Zimmer zurückzuziehen. Vielleicht muss es dies aber auch erst noch lernen. Man kann kein Kind zwingen, in sein Zimmer zu gehen, wenn es wütend oder laut wird. Aber die meisten Kinder merken irgendwann von alleine, dass es ihnen guttut, sich zurückzuziehen. Falls Sie die verbalen oder physischen Attacken nicht ertragen wollen oder können, gehen Sie selbst in ein Zimmer und warten, bis sich die Lage etwas entspannt hat.

Nicht bedrängen

Es ist ein automatischer Reflex von uns Erwachsenen, auf ein schreiendes oder tobendes Kind zugehen zu wollen. Dies führt aber in den meisten Fällen dazu, dass sich das Kind bedroht fühlt und noch wütender wird. Die wenigsten Kinder lassen sich in einem Wutanfall in den Arm nehmen und können sich so beruhigen. Anstatt auf das Kind zuzugehen, machen Sie lieber einen Schritt zurück. Dasselbe gilt für intensiven Blickkontakt (à la «schau mir in die Augen, wenn ich mit Dir rede») und das erheben der eigenen Stimme. Beides wirkt in der Regel kontraproduktiv.

Nicht persönlich nehmen

In einer emotionalen Ausnahmesituation fallen manchmal Worte und Sätze, die einem im Nachhinein leidtun. Legen Sie die schlimmen Worte, die Ihr Kind Ihnen in einem Wutanfall an den Kopf wirft, nicht auf die Goldwaage. Wie bereits weiter oben beschrieben, hat sich Ihr Kind in dem Moment selbst nicht unter Kontrolle. Möglicherweise entschuldigt es sich später bei Ihnen. Und wenn nicht, dann forcieren Sie besser keine Entschuldigung, sonst wärmen Sie das Ganze nochmals auf. Am besten funktioniert es, wenn man selbst ein gutes Vorbild ist. Wenn Sie mal etwas zu Ihrem Kind (oder sonst jemandem) sagen, was Sie nicht so gemeint haben, dann entschuldigen Sie sich. So lernt Ihr Kind, dass man sich nach einem Streit wieder versöhnen kann und dass man im Leben nicht nachtragend sein soll.

Grundproblematik zu einem späteren Zeitpunkt ansprechen und nach Lösungen suchen

Wird der Wutanfall immer wieder durch dieselbe Situation ausgelöst, so können Sie in einem ruhigen Moment mit dem Kind darüber reden. Vielleicht finden Sie gemeinsam eine Lösung für das Grundproblem. Beispiel: es gibt immer wieder Streit um das Essen. Vielleicht macht es Sinn, einen Essensplan für die Woche zu erstellen und vorzubesprechen, damit Ihr Kind schon zum Voraus weiss, was auf den Tisch kommt.

Näheres Umfeld informieren

Für die Lehrer, die Grosseltern oder die Eltern guter Freunde kann ein Wutanfall oder Zusammenbruch Ihres Kindes ziemlich überraschend oder heftig daherkommen. Es ist deshalb immer sinnvoll, wenn diese Personen über die Diagnose Bescheid wissen. So haben sie mehr Verständnis für die Situation.

Zu guter Letzt ein kleiner Trost: die Wutanfälle werden mit der Zeit weniger, da ein Asperger-Kind mit steigendem Alter besser mit den vielen Umweltreizen umgehen kann bzw. sich besser davor abschirmen kann. Ausserdem lernt es, die eigenen Ressourcen einzuteilen und selbst zu spüren, wann es ihm zuviel wird. Wenn die Wutanfälle trotzdem irgendwann wieder zunehmen, dann ist das häufig ein Zeichen für mehr Stress (z.B. bei einem Schulwechsel oder Beginn der Lehre). Wenn man das weiss, dann kann man als Eltern vielleicht etwas nachsichtiger damit umgehen.

Wünschen Sie sich Kontakt zu anderen Eltern mit Asperger-Kindern? Dann melden Sie sich hier zu einem meiner Elternseminare an.