Asperger und Hypersensibilität

„Mein Kind schottet sich immer mehr von der Welt ab. Sobald es zu Hause ist, möchte es alleine in seinem Zimmer spielen. Ich mache mir Sorgen, weil es keine Freunde hat.“

 

Viele Kinder mit Asperger-Autismus verbringen gerne Zeit für sich alleine. Sie möchten nicht gestört werden und beschäftigen sich stundenlang mit einem bestimmten Spielzeug oder einem Thema.

Der Grund für dieses Verhalten liegt in der speziellen Wahrnehmung der Welt, die sich stark von der Art, wie neurotypische Menschen Umweltreize verarbeiten, unterscheidet.

Für eine autistische Person ist die Schwelle zur Reizüberflutung viel niedriger als für neurotypische Menschen. Aus der Forschung weiss man, dass es bereits in einem frühen Stadium der Reizverarbeitung zu Unterschieden zwischen autistischen und neurotypischen Gehirnen kommt (Font-Alaminos, 2020; Baruth, 2010). Auch die weitere Verarbeitung und Integration der Stimuli verlaufen bei autistischen Menschen anders und führen schneller zu einer Überforderung als bei neurotypischen Menschen (Markram & Markram, 2010).

Die Reizüberflutung, welche autistische Menschen erleben, kann man sich in etwa so vorstellen:
Nehmen Sie an, Sie besuchen eine grosse Stadt, wie zum Beispiel Paris. Sie sind überwältigt von den vielen Sinneseindrücken, die auf Sie einprasseln – von den vielen Sehenswürdigkeiten, Gebäuden und Geräuschen um Sie herum. Am Ende des Tages sind Sie völlig erschöpft und freuen sich darauf, sich im Hotelzimmer ausruhen und vom Trubel abschotten zu dürfen. Genau so fühlt sich Ihr Kind, wenn es von der Schule oder vom Spielplatz nach Hause kommt – völlig erschöpft von den unendlich vielen Sinneseindrücken des Tages. Da es diese viel intensiver wahrnimmt als neurotypische Kinder, entspricht bereits ein normaler Schultag der Reizüberflutung in einer unbekannten Grossstadt.

Zu diesen intensiven Sinnesreizen kommt noch hinzu, dass sich ein Asperger-Kind sehr schnell überfordert fühlt, wenn etwas neu oder nicht vorhersehbar ist. Es kann dann die Dinge um sich herum nicht mehr richtig einordnen. Ein Asperger-Kind nimmt viele Details und Veränderungen in seiner Umwelt wahr. Änderungen führen zu Unsicherheit und Stress. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen sensorischer Überempfindlichkeit und der Angst vor Veränderungen bzw. Unvorhersehbarem gibt. Eine Hypothese ist, dass autistische Menschen Schwierigkeiten damit haben, frühere Erfahrungen bei der Verarbeitung von neuen sensorischen Informationen zu nutzen.  Dies bedeutet, dass autistische Personen neue Sinneseindrücke intensiver aufnehmen, da sie frühere Erfahrungen mit ähnlichen Reizen nicht gleich gut abrufen und nutzen können wie neurotypische Menschen. Es ist, als ob sie immer wieder alles neu erleben und verarbeiten müssen (Black, 2017; Neil, 2016).

Obendrein führt eine gewisse „Blindheit“ für soziale Signale zu zusätzlichem Stress und Missverständnissen. Menschliche Reaktionen sind für ein autistisches Kind häufig unvorhersehbar, da es nicht auf den gleichen sozialen Erfahrungsschatz zurückgreifen kann wie neurotypische Kinder.

Die Welt wirkt also ziemlich chaotisch und beängstigend auf ein Asperger-Kind. Deshalb versucht es selber, Struktur in das Ganze zu bringen: durch Rituale und Routinen oder durch das Abschotten an einem ruhigen Ort. Wenn dies nicht gelingt, kommt es zum emotionalen Zusammenbruch, der sich zum Beispiel in einem Wutanfall zeigt. Das ist immer ein Zeichen der Überforderung – die eigenen Emotionen können nicht mehr reguliert werden. Das Kind findet keine guten Strategien, den eigenen Stress zu reduzieren und sich zu beruhigen. Die Hauptursache für Stress bei autistischen Menschen sind Unsicherheit, Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit. Wenn viele Umweltreize dazukommen, ist die Schwelle zur Überforderung noch niedriger.

Wie kann man dem Kind helfen, mit seiner Hypersensibilität umzugehen?

Ruheinseln gönnen

Wenn Ihr Kind gerne für sich alleine ist, dann dient dies vor allem der Erholung von den vielen Umweltreizen. Gönnen Sie ihm diese Ruheinseln. Auch in der Schule sollten genügend Pausen eingeplant werden. Wenn nötig, sollte der Stundenplan für das Kind entsprechend angepasst werden.

Die Welt vorhersehbar machen

Vorhersehbarkeit bedeutet weniger Stress für das Kind. Ein guter Weg ist, möglichst viele Routinen und Rituale in den Alltag einzubauen. Das beginnt beim immer gleichen Ablauf morgens und endet bei fixen Ritualen vor dem Zubettgehen.

Soziale Kompetenzen trainieren

Je mehr das Kind über Gefühle anderer weiss und je besser es soziale Situationen versteht, desto weniger Stress empfindet es in der Interaktion mit anderen Menschen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, soziale Kompetenzen zu trainieren. Beispielsweise zu Hause anhand von „social stories“ oder auch in einer Sozialkompetenzgruppe.

Eigenwahrnehmung trainieren

Sprechen Sie mit dem Kind darüber, welche Umweltreize und Situationen besonders belastend sind. Das Kind kann beispielsweise für verschiedene Situationen auf einer Skala von eins bis zehn sein Stresslevel markieren. Für besonders stressige und wiederkehrende Situationen kann man sich dann überlegen, wie man diese für das Kind erträglicher gestalten könnte oder welche Strategien es ihm erlauben, sich von zu vielen Reizen zu schützen.

Mit zunehmendem Alter wird das Kind besser mit Umweltreizen umgehen können. Auf dem Weg dorthin ist es das Beste, dem Kind möglichst viel Verständnis entgegenzubringen.

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Buchtipp zum Thema: «Der Junge, der zu viel fühlte» von Lorenz Wagner erzählt die Geschichte des berühmten Hirnforschers Henry Markram und seines autistischen Sohns Kai. Basierend auf seinen Erkenntnissen aus experimentellen Untersuchungen stellte er die «intense world theory» auf, welche besagt, dass autistische Personen ein überempfindliches Gehirn haben.

Literatur

Baruth, J., Casanova, M., Sears, L., & Sokhadze, E. (2010). Early-stage visual processing abnormalities in high-functioning autism spectrum disorder (ASD), Translational Neuroscience, 1(2), 177-187. doi: https://doi.org/10.2478/v10134-010-0024-9

Black, K.R., Stevenson, R.A., Segers, M. et al. Linking Anxiety and Insistence on Sameness in Autistic Children: The Role of Sensory Hypersensitivity. J Autism Dev Disord 47, 2459–2470 (2017). https://doi.org/10.1007/s10803-017-3161-x

Font-Alaminos, M., Cornella, M., Costa-Faidella, J., Hervás, A., Leung, S., Rueda, I., Escera, C., Increased subcortical neural responses to repeating auditory stimulation in children with autism spectrum disorder, Biological Psychology, Volume 149, 2020, 107807, ISSN 0301-0511, https://doi.org/10.1016/j.biopsycho.2019.107807

Neil, L., Olsson, N.C. & Pellicano, E. The Relationship Between Intolerance of Uncertainty, Sensory Sensitivities, and Anxiety in Autistic and Typically Developing Children. J Autism Dev Disord 46, 1962–1973 (2016). https://doi.org/10.1007/s10803-016-2721-9

Markram, K., Markram, H., The Intense World Theory – A Unifying Theory of the Neurobiology of Autism, Frontiers in Human Neuroscience, Volume 4, 2010, P. 224 , doi :https://doi.org/10.3389/fnhum.2010.00224