Asperger und Regelschule – wie geht das zusammen?

„Unsere Tochter verweigert die Schule – wir wissen nicht mehr weiter“

 

Bereits für neurotypische Kinder kann die Schule eine ganz schöne Herausforderung sein. Jeden Tag früh aufstehen, pünktlich zur Schule kommen, an alles denken, aufmerksam zuhören, den Schulstoff und die Hausaufgaben bewältigen. Für Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung kippen diese Herausforderungen schnell in eine Überforderung. Nicht, weil Asperger-Kinder den Schulstoff intellektuell nicht packen würden, sondern weil ihnen ihre spezielle Art zu denken und wahrzunehmen ständig in die Quere kommt.

Was sind die typischen Herausforderungen, mit denen ein Asperger-Kind an der Regelschule konfrontiert wird?

Trennung vom vertrauten Zuhause

Den „sicheren Hafen“ morgens zu verlassen, fällt jedem Kind manchmal schwer. Für ein Asperger-Kind ist dies aber besonders schlimm, da es nicht genau weiss, was auf es zukommt. Welche Kinder wird es auf dem Schulweg antreffen? Welcher Schulstoff wird heute durchgenommen? Kann es alles bewältigen? Was, wenn etwas nicht so läuft wie gewohnt? Ein Asperger-Kind kann mit all diesen Unsicherheiten nicht gut umgehen und bekommt vor lauter Bedenken schnell Angst. Eine besondere Herausforderung diesbezüglich sind Projektwochen oder Sporttage. Also Tage an denen alles neu und ungewohnt ist.

Reizüberflutung

Asperger-Kinder reagieren sehr sensibel auf Lärm und andere sensorische Eindrücke. In einer Klasse mit zwanzig oder mehr Kindern kann es schnell zu laut und zu hektisch werden. Auch die vielen visuellen Eindrücke in einem Klassenzimmer sind manchmal zu viel für ein autistisches Kind. Sich unter diesen Umständen zu konzentrieren ist sehr schwierig. Je ruhiger und übersichtlicher eine Klasse und das Schulzimmer sind, desto niedriger ist das Stresslevel für ein autistisches Kind (und desto besser kann es sich auf den eigentlichen Schulstoff konzentrieren).

Überforderung der exekutiven Funktionen

Wie ich bereits im letzten Blog beschrieben habe, zeigen Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung häufig Defizite bei den exekutiven Funktionen. Diese kommen natürlich in der Schule immer wieder zum Tragen. Hier einige Beispiele: nicht einfach dreinreden, wenn man etwas sagen will, sondern zuerst aufstrecken und warten, bis man drankommt. Zuerst überlegen, wie ein Wort geschrieben wird und nicht einfach drauf los schreiben. Neue Lösungswege suchen, wenn eine Strategie nicht zum gewünschten Erfolg führt. Sich darauf einstellen, wenn die Lehrerin krank ist und eine andere Lehrperson einspringt.

Pausen

Jede unstrukturierte Situation bedeutet für ein Asperger-Kind Stress. Somit können die Pausen nicht zur Regeneration genutzt werden. Dort werden die Kinder nämlich nicht nur mit Lärm, sondern auch mit sozialen Herausforderungen konfrontiert. Das Kind möchte vielleicht mit den anderen Kindern spielen, weiss aber nicht so recht wie. Vielleicht wird es auch aus irgendeinem Grund von anderen Kindern gehänselt. All dies führt zu Stress und Angst.

Wie können wir einem Asperger-Kind helfen, dass es die Schule trotzdem meistert? Wie kann auf sein Bedürfnis nach Vorhersehbarkeit und Struktur im Schulumfeld eingegangen werden?

Möglichst gleicher Ablauf am Morgen

Morgens ist die Zeit zwischen dem Aufstehen und der Schule besonders kritisch, da Ihr Kind die Unsicherheit spürt, die ein neuer Tag mit sich bringt. Ein klarer Ablauf, der möglichst wenig „gestört“ wird, ist sehr hilfreich. Vermutlich haben Sie es auch schon erlebt, dass Ihr Kind während dem Frühstück oder beim „sich parat machen“ wegen einer scheinbaren Kleinigkeit „explodiert“. Manchmal enden solche Situationen sogar in der Weigerung überhaupt zur Schule zu gehen. Ihr Kind tut dies natürlich nicht, um Sie zu ärgern, sondern weil ihm in dem Moment alles zu viel wird. Am liebsten würde es zu Hause in seinem vertrauten Umfeld bleiben. Deshalb ist ein ungestörter, immer gleichbleibender Ablauf so wichtig.
Wenn nötig, können Sie Ihr Kind auch eine Weile lang in die Schule begleiten. Das gibt ihm wenigstens auf diesem kurzen Abschnitt des Tages zusätzliche Sicherheit und Vorhersehbarkeit. Versichern Sie Ihrem Kind auch immer wieder, dass es von einer Bezugsperson abgeholt wird, falls es ihm in der Schule nicht gut geht.

Information der Lehrpersonen

Informieren Sie alle Personen in der Schule, die mit Ihrem Kind zu tun haben. Es ist niemandem geholfen, wenn Sie die Diagnose oder den Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung für sich behalten. Nur in Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen kann auch in der Schule auf die Besonderheiten Ihres Kindes eingegangen werden.
Manchmal fehlt den Lehrpersonen das Wissen und die Erfahrung in Bezug auf die Störung und sie wissen nicht, wie sie das Kind am besten unterstützen können. Sie als Eltern kennen Ihr Kind am besten und wissen, was die grössten Stolpersteine sind. Durch einen regelmässigen und offenen Austausch mit den Lehrpersonen können Sie Ihre Erfahrung weitergeben. Nur so kann ein optimales Umfeld geschaffen werden, damit Ihr Kind in der Schule zeigen kann, was in ihm steckt. Dies beinhaltet Anpassungen im Unterricht, zum Beispiel vorhersehbare Abläufe, ein klarer Wochenplan, ein fixer Arbeitsplatz und ein Rückzugsort. Ebenfalls hilfreich ist eine individuelle sonderpädagogischen Förderung, wie zum Beispiel eine Klassenassistenz für bestimmte Stunden oder Psychomotorik. Wenn nötig, können Sie sich hierzu auch Unterstützung beim zuständigen Schulpsychologischen Dienst holen.

Information der Klasse

Wenn Ihr Kind einverstanden ist, sollte auch die Klasse informiert werden. Tauschen Sie sich dazu mit der Lehrperson aus. Es gibt viele Möglichkeiten, das Thema „anders sein“ in den Unterricht einzubauen. Von Carol Gray gibt es sogar einen eigens dafür geschaffenen Unterrichtsplan, um den Schülern in einer Regelklasse das Thema Autismus-Spektrum-Störung näher zu bringen („der 6. Sinn“, erhältlich bei www.autismusverlag.ch). Auch der Kurzfilm „Erstaunliche Dinge geschehen“ eignet sich gut, um Kindern die Thematik zu erklären. Falls Ihr Kind Mühe hat, mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen, kann es vielleicht hilfreich sein, wenn ein anderes Kind bereit ist, in den Pausen sein Begleiter zu sein.

Unterstützung bei den Hausaufgaben

Unterstützen Sie Ihr Kind in Bezug auf die Hausaufgaben, vor allem im Bereich der Planung und des Strukturierens. Viele Asperger-Kinder haben Mühe, selbständig zu planen bzw. sich an Pläne zu halten. Deshalb müssen Sie darauf achten, dass das Kind sich nicht in den Hausaufgaben „verliert“ oder vergisst, rechtzeitig anzufangen.

Genügend Zeit zur Regeneration

Gönnen Sie Ihrem Kind genügend freie Zeit nach der Schule, damit es sich (wenn nötig) zurückziehen und von den vielen Sinneseindrücken erholen kann. Ein vollgepacktes Freizeitprogramm ist für ein Asperger-Kind eher kontraproduktiv. Dies gilt natürlich nicht für sein Interessensgebiet. Wenn es beispielsweise gerne stundenlang Lego baut, dann dient ihm dies ebenfalls zur Erholung und Regeneration.

Umgang mit Tagen, an denen etwas anders läuft

Projektwochen, Sporttage und alles, was anders läuft als sonst, sollten möglichst früh angekündigt und mit dem Kind vorbesprochen werden. Auch hier dreht sich vieles wieder um das Thema „Vorhersehbarkeit“. Visualisieren Sie den Ablauf und machen Sie Ihrem Kind klar, dass es sich nur um einen begrenzten Zeitraum handelt („nach einer Woche ist alles vorbei, und alles läuft wieder wie gewohnt“). Vielleicht hilft es Ihrem Kind schon, wenn es weiss, dass es mit einem guten „Gspänli“ in derselben Gruppe ist. Vielleicht aber braucht es Ihre Begleitung oder zumindest die Option, dass Sie es jederzeit abholen können. Ein sicherer Rückzugsort ist auch immer hilfreich. Wenn Sie merken, dass das Kind völlig abblockt, können Sie mit der Lehrperson vielleicht auch über eine Dispensierung nachdenken.

Vieles hängt von den Lehrpersonen und deren „guten Willen“ ab. Erfahrungsgemäss sind die allermeisten Lehrer aber offen für die Problematik und bemühen sich gerne, ein gutes Umfeld zu schaffen.

Falls Ihr Kind trotz aller Anstrengungen an der öffentlichen Schule unglücklich ist, gibt es immer noch die Option Privatschule resp. Sonderschule. Lassen Sie sich Zeit, um sich alle Schulen, die in Frage kommen, in Ruhe anzuschauen. Kleinklassen und Lehrpersonen mit spezifischem Wissen im Bereich Autismus-Spektrum-Störung sind sicher wichtige Voraussetzungen. Falls Ihr Kind Interessen in einem Spezialgebiet hat, kann eine Schule, die sehr individuell auf Interessen und Stärken eingeht, das Richtige sein.

Ihr Kind verbringt viel Zeit in der Schule. Deshalb ist es wichtig, dass diese prägenden Jahre von allen Seiten gut begleitet werden. So kann Ihr Kind sein Potential entfalten und zu einer robusten Persönlichkeit heranwachsen.

Wollen Sie sich mit anderen Eltern austauschen? Dann melden Sie sich zu einem meiner Elternseminare an. Weitere Informationen finden Sie hier.

Sind Sie Lehrerin oder Lehrer mit einem Asperger-Kind in Ihrer Klasse? Möchten Sie mehr wissen über die Störung und was Sie zu einem guten Umfeld für das Kind beitragen können? Dann melden Sie sich bei mir. Ich berate und unterstütze Sie gerne. Nehmen Sie unverbindlich Kontakt mit mir auf.

Für Lehr- und Fachpersonen führe ich regelmässig Webinare durch. Alle Informationen dazu finden Sie hier.