Der Alltag mit einem Asperger-Kind

„Mein 9-jähriges Kind weiss, wie ein Atom aufgebaut ist – selbständig anziehen, kann es sich aber nicht.“

Diesen Widerspruch erleben Eltern von Asperger-Kindern fast täglich. Auf der einen Seite ist das Kind unheimlich wissensdurstig und kann sich fast alles merken. Auf der anderen Seite fällt es ihm schwer, alltägliche Dinge, wie sich anziehen, Zähneputzen etc. alleine zu erledigen. Hinzu kommt noch, dass man als Eltern von einem Asperger-Kind einem dauernden Wechselbad der Gefühle ausgesetzt ist. In einem Moment ist das Kind zufrieden mit sich und der Welt, im nächsten Moment braut sich ein Sturm zusammen, weil man morgens versehentlich die „falsche“ Frühstücksschüssel hingestellt hat.

Weshalb aber fallen Kindern mit Asperger-Autismus das Ausführen alltäglicher Dinge so schwer? Und warum bringen es Dinge, die nicht ihrer Routine entsprechen, dermassen aus dem Konzept?  Diesen Fragen wollen wir in diesem Blog-Beitrag nachgehen.

In erster Linie sind alltägliche Dinge für ein Asperger-Kind einfach langweilig. Lieber vertieft es sich in ein spannendes Buch, als dass es sich für die Schule parat macht. Gleichzeitig wird es aber auch immer wieder von Details abgelenkt und vergisst, was es eigentlich tun sollte. Unklare Anweisungen können ebenfalls dazu führen, dass das Kind blockiert ist und nicht weiss, was nun von ihm erwartet wird.

Grund für dieses „chaotische“ Verhalten ist unter anderem die Tatsache, dass Menschen mit einer autistischen Störung häufig Defizite in den sogenannten „exekutiven Funktionen“ aufweisen. Mit exekutiven Funktionen sind diejenigen Prozesse im Gehirn gemeint, welche unsere Handlungen steuern und laufend neuen Gegebenheiten anpassen. Beispiele für solche Prozesse sind: sich Ziele setzen, die nötigen Handlungen für die Zielerreichung planen und ausführen, Prioritäten setzen, Impulse steuern (d.h. sich nicht von anderen Dingen ablenken lassen), sich Dinge im Arbeitsgedächtnis merken und flexibel auf veränderte Bedingungen reagieren. Ein autistisches Kind kennt zwar die einzelnen Schritte einer alltäglichen Handlung. Wenn es aber mitten drin abgelenkt wird, weiss es auf einmal nicht mehr, was es tun oder in welcher Reihenfolge es die einzelnen Handlungsschritte ausführen soll. Ein Beispiel: Das Kind soll sich morgens anziehen. Nun liegen in seinem Zimmer auf dem Boden ein paar Legosteine herum. Davon wird es abgelenkt und es fängt halb angezogen an, Lego zu bauen. Es vertieft sich dermassen in dieses Spiel, dass es die eigentliche Aufgabe vergisst.

Typisch ist zudem, dass autistische Kinder wenig flexibel sind in ihrem Denken. Es fällt diesen Kindern schwer, neue Strategien oder Lösungswege auszuprobieren, wenn einmal etwas nicht so ist, wie gewohnt. Beispiel: die Kleider, welche das Kind anziehen sollte, liegen morgens nicht wie gewohnt auf seinem Stuhl neben dem Bett, sondern sind noch im Schrank. Obwohl es eigentlich weiss, dass seine Kleider im Schrank sind, ist das Kind völlig blockiert und weiss nicht, was es jetzt tun soll.

Neben den exekutiven Funktionen spielt auch noch ein anderes neuropsychologisches Konzept eine wichtige Rolle im Alltag: die zentrale Kohärenz. Damit ist die Fähigkeit des menschlichen Gehirns gemeint, nicht nur einzelne Details wahrzunehmen, sondern einzelne Wahrnehmungselemente in einen Gesamtzusammenhang zu bringen. Diese Fähigkeit ist wichtig, um sich von einer Situation ein Gesamtbild machen zu können und Zusammenhänge zu verstehen. Bei Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung ist die zentrale Kohärenz nur schwach ausgeprägt. Das Gehirn verarbeitet Sinneseindrücke in einer detaillierteren Weise und stellt weniger Zusammenhänge zwischen einzelnen Elementen her als ein neurotypisches Gehirn. Vielleicht ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass Ihr Kind ein gutes Auge für Details hat und es häufig an diesen „hängen“ bleibt. Die Aufmerksamkeit richtet sich also eher auf Einzelheiten als auf das Gesamtbild. Dies kann für gewisse Aufgaben hilfreich sein, führt aber auch dazu, dass Erfahrungen von einer Situation nicht auf neue Situationen übertragen werden, da sich diese vielleicht in ein paar Einzelheiten von einer vorherigen Situation unterscheidet. Wenn also morgens eine andere Frühstückschüssel auf dem Tisch steht, ist für das Kind die gesamte „Frühstückssituation“ anders. Es kann nicht abstrahieren, dass ja nur eine andere Schüssel dasteht, die Situation an und für sich aber dieselbe ist. Auch Übergänge (von einer Handlung zu einer anderen) sind schwierig, da das autistische Gehirn Mühe hat, sich von einer Sache zu lösen. Um zum Beispiel mit den Legosteinen zurückzukehren: Kommen nun die Eltern und sagen dem Kind, dass es sich fertig anziehen soll, kann es sich nur schwer vom Legobauen lösen und seiner ursprünglichen Aufgabe widmen.

Wie können wir unserem Asperger-Kind helfen, trotzdem einfache Alltagsroutinen zu erlernen, ohne dass man ständig danebenstehen und das Kind anleiten muss? Hier ein paar praktische Tipps:

Klare Abläufe

Führen Sie ganz klare Abläufe ein, die jeden Tag exakt gleich eingehalten werden. Beispiel für einen klaren Ablauf: Sie wecken das Kind (unter der Woche) jeden Morgen genau um dieselbe Zeit, dann machen Sie das Licht im Zimmer an, dann zieht sich das Kind an, dann kommt es an den Frühstückstisch, 10 Minuten bevor es zur Schule muss, werden die Zähne geputzt, dann zieht es seine Jacke und seine Schuhe an, nimmt seinen Thek und verlässt das Haus.
Visuelle Hilfen sind dabei sehr hilfreich. Sie können Abläufe visualisieren, indem Sie den Ablauf aufzeichnen oder Punkt für Punkt aufschreiben und das Blatt irgendwo gut ersichtlich aufhängen. Wichtig ist, dass dieser Ablauf immer genau so eingehalten wird. Es hilft ihrem Kind zum Beispiel auch, wenn Sie den Stapel der Kleider, die es anziehen soll, genau in der Reihenfolge hinlegen, in der es sie anziehen muss. Mit der Zeit gewöhnt sich ihr Kind an die immer gleichbleibenden Abläufe und wird sich von alleine an diese Routinen halten.

Rationale Erklärungen

Erklären Sie Ihrem Kind möglichst plausibel, warum gewisse alltägliche Dinge wichtig sind. Je rationaler Ihre Erklärung, desto eher werden die Anweisungen vom Kind befolgt. Beispiele: „Dein Körper besteht zu 70% aus Wasser. Deshalb musst Du regelmässig etwas trinken.“ „Wenn Du Dir die Nase nicht schnäuzt, setzen sich die Viren und Bakterien in Deinen Nasenhöhlen fest und die Erkältung wird noch schlimmer.“
Erklären Sie Ihrem Kind immer wieder aufs Neue, was es als Nächstes tun soll, auch wenn es für Sie sonnenklar ist. Manchmal sind es nur ganz kleine Dinge, die Ihrem Kind anders erscheinen als sonst und es deshalb aus dem Konzept bringen.

Kurze und klare Anweisungen

Geben Sie kurze und klare mündliche Anweisungen und zählen Sie zunächst innerlich auf 10, bevor Sie es ein zweites Mal sagen. Asperger-Kinder sind visuelle Menschen und verarbeiten Gehörtes schlechter als andere Kinder. Deshalb reagieren sie häufig etwas verzögert auf mündliche Anweisungen oder Fragen. „Zutexten“ mag Ihr Kind überhaupt nicht und stellt dann seine Ohren auf Durchzug.

Wenn es Ihr Kind schafft, sich in einem Bereich Routinen anzueignen und selbständiger zu werden, ist es wichtig, dass Sie es dafür loben und Wertschätzung zeigen. Für uns sind solche Alltagsroutinen selbstverständlich, aber für Ihr Kind bedeutet es eine grosse Anstrengung. Asperger-Kinder wollen uns nicht ärgern, wenn sie Anweisungen nicht befolgen oder mit einfachen Dingen überfordert sind. Durch ihre spezielle Wahrnehmung der Welt ist es für sie einfach sehr viel schwieriger, durch den Alltag zu kommen.

Wünschen Sie sich noch mehr Tipps für den Alltag mit Ihrem Asperger-Kind? Möchten Sie andere Eltern kennenlernen, die in der gleichen Situation sind wie Sie? Dann melden Sie sich zu einem meiner Elternseminare an. Alle Infos dazu finden Sie hier.