Gastblog: Medikation bei Autismus-Spektrum-Störung

 

Wenn man mit der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung konfrontiert wird, taucht schnell die Frage nach möglichen Behandlungsansätzen auf. Da es sich um eine angeborene,  tiefgreifende Entwicklungsstörung handelt, ist Autismus nicht heilbar. Es gibt leider kein Medikament gegen Autismus im Allgemeinen, aber gewisse Kernsymptome, wie zum Beispiel repetitives/zwanghaftes Verhalten oder Störungen in der Filterfunktion von Reizen, die von aussen kommen und vor allem die Wahrnehmung betreffen, können medikamentös gemildert werden. Es liegen auch erst wenige Studien zu medikamentöser Wirkung bei Autismus vor.

Der Pharma-Konzern Roche ist in diesem Bereich am Forschen. In diesen Studien wird von krankheitsmodifizierenden Therapien sowie der Linderung einzelner Symptome gesprochen und keine Heilung glorifiziert. Dass kein “Autismus-Medikament” vorhanden ist, liegt vor allem daran, dass die Zielgruppe für den Medikamentenmarkt verhältnismässig klein ist und die Zulassung sehr aufwändig. Eine kleine Patientengruppe ist für die Pharmaindustrie finanziell nicht interessant.

In diesem Gastblog von Sara Grunder (Sonderpädagogin und Autismusexpertin) werden die Wirkmechanismen von Psychopharmaka sowie die wichtigsten Behandlungsmöglichkeiten bei Autismus beschrieben.

Einblick ins Gehirn

Um in die Tiefe vom Verständnis der Wirkungsmechanismen von autismusrelevanten Medikamenten zu stossen, möchte ich vorerst kurz eine Einführung in die Arbeitsweise des Nervensystems im Gehirn, des neuronalen Netzwerks geben. Unser Gehirn besteht aus einem Netzwerk von ca. 100 Milliarden Neuronen, welche mit jeweils 1000 und mehr Synapsen bestückt sind. Daraus ergeben sich über 100 Billionen Verbindungsleitungen. Würde man die miteinander verbundenen Nervenfasern eines Kubikmillimeters aus der Hirnmasse hintereinander legen, würde die Strecke fünf Kilometer lang werden. Diese unglaublichen, eindrücklichen Zahlen sollen die komplexe Leistungsfähigkeit eines unserer wichtigsten Zentralorgane widerspiegeln. Auf der Abbildung 1 ist eine Nervenzelle (Neuron) mit ihrem verhältnismässig grossen Kern (Soma) und den unzähligen Verästelungen, Dendriten sowie den Nervenendigungen, Synapsen, dargestellt.

Neuron

 

Abb. 1: Neuron (Quelle: www.dasgehirn.info)
Abb. 2: Synapse

 

Abb. 2: Synapse (Quelle: www.mpg.de)

Die Dendriten sind die Empfängerzellen. Sie empfangen also Signale von anderen Nervenzellen. Diese Informationen werden über die Nervenfaser, das Axon, zu den Senderzellen, den Synapsen weitergeleitet. Von dort gelangen sie über den synaptischen Spalt wieder an die nächste Nervenzelle. Die Hülle (Membran) der Empfängerzellen ist mit verschiedenen Rezeptoren bestückt. Die Funktion der Rezeptoren kann man sich wie Schlüssellöcher oder Andockstellen vorstellen, die nur auf die passenden “Schlüssel” oder Signale reagieren. Ein wichtiger Bestandteil in der neuronalen Übertragung von Informationen von einer Nervenzelle zur anderen sind die Botenstoffe (sogenannte Neurotransmitter), welche in den Synapsen eine chemische Signalübertragung auslösen (siehe Abbildung 2).

Botenstoffe

Die bekanntesten Botenstoffe heissen Dopamin, Serotonin und Adrenalin. Dopamin ist verantwortlich für den inneren Antrieb, die Motivation und auch der wichtigste Botenstoff für das Belohnungssystem im Gehirn. Serotonin ist als Stimmungsaufheller bekannt und auch bei der Bildung von Melatonin relevant. Adrenalin ist im Zusammenhang mit Stress wirksam.

Ungleichgewicht im neuronalen System bei Menschen mit Autismus

Mittlerweile bestätigen wissenschaftliche Studien, dass bei einigen Menschen mit Autismus unter anderem ein Ungleichgewicht im Neurotransmitter-Haushalt vorliegt, vor allem beim Botenstoff Dopamin.

Bei der Übertragung von Botenstoffen kann es aufgrund einer Fehlfunktion bestimmter Synapsen zu einer Wiederaufnahme (reuptake) des Stoffes in der Senderzelle kommen. Oder es wird zu wenig Dopamin ausgeschüttet. Dadurch ist im synaptischen Spalt kein oder zu wenig Botenstoff für die vollständige Übertragung vorhanden. Folglich werden auch die damit verknüpften Signale und Informationen nicht vollständig übertragen und eine erwartete Reaktion findet nicht statt oder eine Handlung kann nicht vollumfänglich ausgeführt werden.

Der medikamentöse Behandlungsansatz ist deshalb auf die Regulation des neuronalen Systems ausgerichtet, indem bestimmte Wirkstoffe gezielt Einfluss nehmen auf die Ausschüttung und Verteilung der Neurotransmitter. Der Einfluss kann eine hemmende oder erregende Wirkung erzeuge. Da Neurotransmitter auf Rezeptoren in verschiedenen (auch nicht betroffenen) Hirnregionen und sogar ausserhalb des Gehirns wirken, kann es bei diesen Wirkstoffen auch zu unerwünschten Nebenwirkungen kommen.

Methylphenidat

Der Wirkstoff Methylphenidat, zur Gruppe der Stimulanzien gehörig und bekannt unter dem Medikamentennamen Ritalin, soll den weiter oben beschriebenen fehlgeleiteten Prozess regulieren. Das Methylphenidat hemmt die Dopamin-Wiederaufnahme (reuptake-inhibitor) und erhöht so deren Konzentration im synaptischen Spalt. Bei ADHS ist dieser Wirkmechanismus schon lange bekannt. Auch bei Autismus geht man davon aus, dass der Neurotransmitter Dopamin durch die fehlerhafte Wiederaufnahme oder zu geringe Ausschüttung nicht oder zu wenig verteilt wird. Durch die Gabe von Methylphenidat werden die Aufmerksamkeit und Konzentration erhöht sowie die körperliche Hyperaktivität gebremst.

Bei Betroffenen mit ASS reagieren ca. 50% der Kinder und Jugendlichen als Responder auf Methylphenidat. Die Nebenwirkungen sind bei Autismus-Betroffenen stärker als bei anderen. Deshalb brechen auch viele die Behandlung wieder ab. Im Vergleich liegt die Erfolgsquote bei nicht-autistischem ADHS bei 70-80%.

Allgemeine Nebenwirkungen sind bei allen Präparaten mit dem Wirkstoff Methylphenidat Appetitminderung und Einschlafstörungen.

Weiter von Bedeutung ist, dass es vor allem bei Ritalin und Equasym zu einem Rebound-Effekt kommen kann. Das heisst, dass die Symptome infolge des Nachlassens der Medikamentenwirkung verstärkt wieder auftreten können. Diesem Effekt kann entgegengewirkt werden, indem man auf ein Retardpräparat oder ein anderes Medikament ausweicht.

Trägersubstanzen

Zu beachten oder – je nach körperlich-organischer Unverträglichkeit (Intoleranz) – von grosser Wichtigkeit ist, dass der Wirkstoff Methylphenidat je nach Präparat andere Trägersubstanzen hat. Das bekannteste Medikament Ritalin beinhaltet die Trägersubstanz Weizenstärke, ist demnach also glutenhaltig. Wenn eine Glutenunverträglichkeit bekannt ist, kann unter Umständen ein Präparat deshalb nicht die volle oder erwünschte Wirkung zeigen.

Auf dem handelsüblichen Markt sind Generika erhältlich mit anderen Trägersubstanzen. Medikinet beinhaltet die Trägersubstanz Maisstärke. Concerta ist mit Laktose angereichert wie auch Equasym. Wie bei der Glutenunverträglichkeit gilt auch, wenn eine bekannte Laktoseintoleranz vorliegt, dass man dann eventuell auf ein anderes Präparat ausweichen sollte.

Neuroleptika

Aus der Medikamentengruppe der Neuroleptika werden auch Präparate gegen bestimmte Autismus-Symptome angewendet. Der Wirkmechanismus gilt ebenfalls der Regulierung und Aufhebung der Aktivierung von Dopamin.

Die Wirkstoffe Risperidon und Aripiprazol werden primär zur Behandlung von Schizophrenie, Aggressionen, Verhaltensstörungen, Stereotypien und repetitivem Verhalten, Reizbarkeit sowie selbstverletzendem Verhalten eingesetzt. Der Wirkstoff Risperidon ist im Medikament Risperdal enthalten. Die Wirkung von Risperdal bei autistischen Kindern wurde in einer Studie getestet. Nach einer Medikamentengabe von acht Wochen besserten sich bei einem Grossteil der Patienten Verhaltensauffälligkeiten wie Selbstverletzungen, Aggression und Wutanfälle.

Aripiprazol ist im handelsüblichen Präparat Abilify erhältlich.

Beide auch als atypische Neuroleptika bezeichneten Medikamente weisen die Nebenwirkungen von Schlaflosigkeit auf. Bei Risperdal kann es auch zu einer Gewichtszunahme kommen. Abilify kann zusätzlich Kopfschmerzen verursachen.

Hormone

Ein weiterer Behandlungsansatz ist die Gabe von Hormonen, wenn diese vom Körper unzureichend produziert werden. Viele kennen wahrscheinlich die Behandlung mit dem Schlafhormon Melatonin. Das Melatonin soll bei Einschlaf- und Durchschlafstörungen helfen. Lange Zeit konnte man Melatonin nur über das Internet bestellen, weil es für die Schweiz keine Zulassung des Wirkstoffs gab. Mittlerweile gibt es ein zugelassenes Medikament. Es ist rezeptpflichtig und heisst Slenyto. Die Wirkung ist langanhaltend (retardierend) und wirkt somit auch gegen nächtliches Erwachen. Wenn ein Kind eine ausgewiesene ASS-Diagnose hat, werden die Kosten dafür in der Regel von der Krankenkasse übernommen.

Es gibt wissenschaftliche Hinweise, dass bei Menschen mit Autismus weniger vom Hormon Oxytocin vorhanden ist. Oxytocin ist auch als Bindungs- oder Kuschelhormon bekannt. Die wichtigste Funktion hat Oxytocin als Mutter-Kind-Hormon. Der Wirkstoff löst die Wehen bei der Geburt aus und sorgt für den Milcheinschuss. Darüber hinaus ist Oxytocin für die enge Bindung zwischen der Mutter und ihrem Neugeborenen verantwortlich. Eine weitere Funktion hat Oxytocin bei der Bewältigung von Stress.

Oxytocin wird in Form eines Nasensprays verabreicht. Aus den durchgeführten Studien resultieren unterschiedliche Ergebnisse. Man muss auch beachten, dass es sich bei den Studien vorwiegend um Laboruntersuchungen handelt. Deshalb sind die Ergebnisse teilweise zu wenig aussagekräftig. Es hat sich jedoch gezeigt, dass sich die Fähigkeit, Emotionen in Gesichtern und Augenpartien wahrzunehmen oder Modulation und Emotion in der Stimme zu erkennen, verbessert hat. Es besteht die Annahme, dass Oxytocin zum einen die Motivation erhöht, überhaupt sozial zu interagieren, weil es die Aufmerksamkeit auf soziale Stimuli wahrscheinlich verstärkt.

Neben der Gabe von Medikamenten gibt es eine Vielzahl anderer sehr erfolgreicher Behandlungsmöglichkeiten wie Verhaltenstherapie, Neurofeedback-Therapie, Ergotherapie, Psychotherapie und Hypnose. Letztlich bleibt, dass man die einzigartige Andersartigkeit von autistischen Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Neurodiversität akzeptieren und schätzen lernen muss und ein Umfeld für sie schaffen, in welchem sie ihre Stärken ausleben können.

Sara Grunder, Sonderpädagogin und Autismusexpertin