Geschwister haben es nicht leicht!

Ein Geschwister mit Asperger-Syndrom zu haben, ist nicht immer so einfach. Die ganze Familiendynamik richtet sich auf dieses eine Kind mit besonderen Bedürfnissen aus. Eltern haben oft das Gefühl, das Asperger-Kind nimmt fast den ganzen Raum und ihre ganze verfügbare Zeit ein. Wie soll man da noch auf weitere Kinder eingehen? Wie kann man unter diesen Umständen allen gerecht werden?
Häufig nagt an den Eltern von Asperger-Kindern das schlechte Gewissen, weil die Familie nicht einfach mal spontan etwas neues unternehmen kann oder weil das Mittagessen durch einen Wutanfall zu einer sehr lauten und aufgeregten Angelegenheit wird. Ständig verlangt man von den Geschwistern, dass sie Verständnis haben. Dabei treten deren Bedürfnisse häufig in den Hintergrund. Aber wie gross ist die Beeinträchtigung tatsächlich? Und ist der Einfluss wirklich nur belastend? Diesen Fragen gehen wir in diesem Blog nach.
Positive Aspekte
Schauen wir uns zuerst die positiven Aspekte an. Aus Sicht der Asperger-Kinder kann man sagen, dass sie stark davon profitieren, ein (oder mehrere) Geschwister zu haben. Sie können in einem geschützten Rahmen lernen, mit anderen Kindern zu interagieren. Abwechseln, teilen, Rücksicht nehmen, etc. – das sind alles Fähigkeiten, die einem Asperger-Kind nicht gerade in die Wiege gelegt wurden. Da ist es sehr hilfreich, im vertrauten Umfeld mit der Schwester oder dem Bruder solche sozialen Fertigkeiten zu trainieren. Asperger-Kinder haben häufig keinen grossen Freundeskreis. Darum ist es schön, wenn sie im Geschwister einen Spielkameraden finden.
Auf der anderen Seite profitieren aber auch die „neurotypischen“ Geschwister von ihrer besonderen Schwester/ihrem besonderen Bruder. Schon früh lernen sie, Rücksicht zu nehmen und nachsichtig zu sein, wenn jemand etwas aus der Reihe tanzt. Eltern aus meinen Seminaren und Beratungen berichten mir fast durchgängig, dass die Geschwisterkinder sehr umgänglich und verträglich sind. Sie haben viele Freunde und können sich gut anpassen. Das sind Eigenschaften, die ihnen im späteren Leben zugutekommen. Auch die Tatsache, dass sie schon früh etwas über Neurodiversität lernen, macht sie in ihrem Leben zu toleranteren und offeneren Menschen. Menschen, die ein autistisches Geschwister haben, berichten häufig, dass sie deren unkonventionelle Denkweise und ihr grosses Wissen bzw. besonderen Fähigkeiten in einem Spezialgebiet bewundern.
Belastung und Stress für die Familie
Gleichzeitig darf man aber die Belastung für das Geschwisterkind nicht unterschätzen. Familien mit einem autistischen Kind erleben viel Stress. Dies kann sich negativ auf den Familienalltag und die Beziehung zwischen den Eltern auswirken. Gibt es Streit oder Spannungen in der Familie, beziehen Kinder dies häufig auf sich und fühlen sich schuldig. Zudem möchte das Geschwisterkind die Eltern vielleicht nicht noch zusätzlich mit seinen eigenen Sorgen belasten. Nach aussen sieht es dann so aus, als ob es einfach ein besonders pflegeleichtes oder ruhiges Kind wäre. Tatsächlich bedeutet der Rückzug aber einfach das kleinste Übel für das Geschwisterkind. Manche Kinder können auch wütend oder stur reagieren, um „gehört“ zu werden.
Was kann man als Eltern tun, um dem Geschwisterkind trotzdem ein Gefühl der Geborgenheit und der Bedeutsamkeit zu geben?
Zeit zu zweit: Planen Sie Zeit mit dem Geschwisterkind ein, in der Sie nur mit ihm etwas machen. Am besten jeden Tag zehn Minuten (zum Beispiel ein Spiel spielen oder etwas vorlesen) und/oder am Wochenende eine längere Aktivität einplanen.
Bedeutsamkeit vermitteln: Geben Sie dem Geschwisterkind genügend Mitspracherecht. Häufig richtet man alles auf das Asperger-Kind aus und die ganze Familie muss sich an seine Bedürfnisse anpassen. Dabei gehen die Meinung und die Bedürfnisse des Geschwisterkindes häufig unter. Wenn es zum Beispiel darum geht, was gekocht wird, können Sie dies mit allen Kindern für die nächste Woche vorbesprechen. Jedes Kind darf dann an einem Tag wählen, was gekocht wird.
Lärmpegel
Auch der Lärmpegel und die unvorhersehbaren Wutausbrüche sind für ein Geschwisterkind nicht schön. Nicht nur die Wutausbrüche machen einem Geschwisterkind zu schaffen. Manche Asperger-Kinder sprechen ohne Punkt und Komma, so dass sich alles um sie dreht. Da kann ein Geschwisterkind schnell das Gefühl bekommen, dass sich die Eltern zu wenig auf seine Bedürfnisse eingehen. Auch kann es dem Geschwister peinlich sein, wenn seine Schwester/ sein Bruder in der Öffentlichkeit ausrastet.
Wie bringt man mehr Ruhe in die Familie?
Aufklärung: Klären Sie das Geschwister über die Besonderheiten seiner Schwester/seines Bruders auf. Nur so versteht es, weshalb sich das Familienleben häufig so stark auf das eine Kind ausrichtet. Auch sollte man ihm erklären, dass es keine Schuld daran hat, dass es manchmal etwas stressiger oder hektischer zu geht als in anderen Familien.
Familie aufteilen: Manchmal ist es hilfreich, wenn ein Elternteil oder die Grosseltern etwas mit dem Asperger-Kind unternehmen, so dass zu Hause etwas Ruhe einkehrt. Schaffen Sie sich auch selbst ab und zu Ruheinseln. Auch wenn es nur eine Stunde ist, können Sie und die Geschwister etwas Kraft tanken.
Beziehung
Auch in der Beziehung zur Schwester/zum Bruder mit dem Asperger-Syndrom muss ein Geschwisterkind häufig zurückstecken. Das gemeinsame Spiel klappt nur mit viel Nachsicht und Feinfühligkeit von Seiten des neurotypischen Geschwisters. Beim Gesellschaftsspiel muss es sich damit abfinden, dass es selten als erstes an der Reihe ist und es muss sich damit arrangieren, dass nur mit seinen Spielsachen gespielt wird, weil das Asperger-Kind seine eigenen Spielsachen nicht teilen möchte. Asperger-Kinder machen dies nicht aus böser Absicht: Sie haben einfach Mühe damit, die Perspektive anderer Menschen einzunehmen und nehmen nur ihre Weltsicht wahr. Geschwister von Asperger-Kindern berichten deshalb häufig, dass das Asperger-Kind auf seiner eigenen Sichtweise beharrt und tonangebend ist.
Was können Sie als Eltern zu einer gelingenden Geschwisterbeziehung beitragen?
Spielsituationen und Konflikte begleiten: Begleiten Sie ab und zu Spielsituationen unter den Geschwistern. So helfen Sie Ihrem Asperger-Kind, seine Schwester/seinen Bruder besser zu verstehen und anders zu reagieren. Bei Konflikten ist es ratsam, erst einmal nicht einzugreifen, sondern abzuwarten, ob die Kinder den Streit selber regeln können. Ist dies nicht der Fall, dann versuchen Sie, möglichst nicht Partei zu ergreifen. Dies führt nämlich dazu, dass die Kinder in Opfer und Täter eingeteilt werden, was noch mehr Rivalität schürt. Es ist besser, einen möglichst neutralen Standpunkt einzunehmen und die Kinder anzuleiten, einen Kompromiss zu finden. Wenn es zum Beispiel Streit gibt, weil das Asperger-Kind beim Schaukeln nicht abwechseln will, versuchen sie nicht sofort Partei für das Geschwister zu ergreifen und mit dem Asperger-Kind zu schimpfen. Überlegen Sie besser, wie sie dem Asperger-Kind erklären können, wie sich das Geschwister fühlt und was es denkt. Wenn es verstanden hat, dass das Geschwister auch sehr gerne schaukelt und traurig ist, wenn es nie drankommt, fordern sie es dazu auf, z.B. eine Zeit zu nennen, wie lange jeder abwechselnd schaukeln kann. Wenn dann der Wecker auf ihrem Handy läutet, stehen die Chancen besser, dass das Asperger-Kind die Schaukel freigibt, als wenn sie es mit gutem Zureden oder Schimpfen versuchen.
Ähnlich wie bei Kleinkindern muss man als Eltern versuchen, bei sozialen Interaktionen möglichst zu vermitteln und einfache Regeln zu finden. Asperger-Kinder müssen soziale Fähigkeiten mühsam erlernen, da sie kein intuitives Gespür dafür haben, was der andere denkt oder fühlt.
Grenzen
Asperger-Kinder spüren nicht, wenn sie die Grenzen ihrer Mitmenschen überschreiten. Zum Beispiel texten sie jemanden zu, obwohl die Person schon lange nicht mehr zuhören mag, oder sie stören jemanden mitten in einer Tätigkeit. Auch räumliche Grenzen werden häufig nicht respektiert. So kann es passieren, dass ein Asperger-Kind ungefragt ins Zimmer seines Geschwisters eindringt, dort eine Unordnung macht und sich danach weigert, das Zimmer wieder aufzuräumen (weil es ja nicht sein Zimmer ist). Umgekehrt darf aber niemand sein Zimmer betreten, geschweige denn seine Spielsachen benutzen. Die eigenen Grenzen werden gewahrt, aber die des Gegenübers können sie nicht spüren. Dies alles passiert nicht mit böser Absicht, aber für ein Geschwisterkind kann es ganz schön anstrengend sein.
Wie sorgen Sie als Eltern dafür, dass die Grenzen des Geschwisterkindes nicht ständig überschritten werden?
Privatsphäre einrichten und schützen: Es ist wichtig, dass das Geschwister einen geschützten Raum besitzt (z.B. ein eigenes Zimmer), wo es das Sagen hat. Als Eltern können sie dem Geschwister erklären, dass es seine Privatsphäre schützen kann, indem es zu seiner Asperger-Schwester/seinem Asperger-Bruder ganz klar „nein“ sagt, wenn es seine Ruhe haben möchte oder wenn es nicht möchte, dass in seinem Zimmer gespielt wird. Auch können Sie dafür sorgen, dass es mal ungestört mit einem Freund oder einer Freundin spielen kann, ohne dass es von seinem Asperger-Geschwister gestört wird.
Wenn Sie die oben genannten Punkte berücksichtigen, ist die Situation für Ihre Kinder unter dem Strich bereichernd – sowohl für das Asperger-Kind als auch für die Geschwister. Und denken Sie daran: Kinder brauchen keine perfekten Eltern, sondern Eltern, die ihnen Geborgenheit und Liebe schenken!
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