Die Gratwanderung zwischen Fordern und Überfordern

Haben Sie sich auch schon gefragt, ob Sie in der Erziehung Ihres Asperger-Kindes zu wenig streng sind? Oder wurden Sie sogar von Ihrem Umfeld schon einmal darauf hingewiesen, dass Sie einfach mal härter durchgreifen sollten und Ihrem Kind mehr Grenzen setzen müssten? Dann kann ich Sie beruhigen, denn es geht den meisten Eltern von Asperger-Kindern genauso wie Ihnen. Dies hat einen guten Grund: die gängigen Erziehungsmethoden, wie zum Beispiel das Androhen von Konsequenzen, zeigen bei Asperger-Kindern keinen nachhaltigen Effekt. Im Gegenteil, auf Druck reagiert ein Asperger-Kind in den meisten Fällen mit einer Blockade oder einem Wutanfall, da es sich gestresst und überfordert fühlt. Bei älteren Asperger-Kindern bewirkt Druck vielleicht nicht gleich immer einen kompletten Zusammenbruch, aber es resultiert häufig in endlosen Diskussionen über den Sinn und Zweck einer neuen Anforderung. Auch dies ist im Grunde nur ein Ausdruck dafür, dass Ihr Kind sich noch nicht bereit fühlt, eine neue Herausforderung zu meistern.

Wie immer müssen wir uns zunächst fragen, was hinter dem Verhalten steckt. Warum reagieren Asperger-Kinder so sensibel auf Druck? Es gibt dafür zwei Hauptgründe: Einerseits machen sich Asperger-Kinder sehr viele Gedanken darüber, ob sie einer Aufgabe gewachsen sind oder nicht (z.B. den Schulweg alleine gehen). Wenn sich ein Asperger-Kind nicht hundertprozentig sicher ist, dass es eine Herausforderung bewältigen kann, dann vermeidet es die Aufgabe in der Regel lieber. Es gibt in seiner Welt nur ein dichotomes «ganz oder gar nicht». Der zweite Grund für das Vermeidungsverhalten liegt in den rigiden Denkmustern und der geringen kognitiven Flexibilität eines Asperger-Kindes. Das bedeutet, wenn etwas nicht in die starren Vorstellungen eines Asperger-Kindes passt, kann es sich kaum darauf einlassen. Dies führt auch dazu, dass sich ein Asperger-Kind nur schwer von einer aktuellen Tätigkeit lösen kann (z.B. aufhören Lego zu spielen, um sich für die Schule parat zu machen).

Vielleicht fragen Sie sich jetzt: «Aber kann man denn gar nichts einfordern? Wie soll mein Kind Fortschritte machen? Wo darf ich auch einmal Grenzen ziehen?». Die Antwort lautet: Es ist immer eine Gratwanderung zwischen Fordern und Überfordern. Asperger-Kinder machen Fortschritte, aber sie tun dies in ihrem eigenen Tempo. Als Eltern braucht es eine grosse Portion Geduld und Zuversicht. Folgende Tipps sollen Ihnen helfen, Ihr Kind auf dieser Gratwanderung zu begleiten:

Bewahren Sie Ruhe und Geduld

Auch wenn eine Situation nervenaufreibend ist, so wirkt sich Druck meist kontraproduktiv aus. Ein typisches Beispiel ist die Abendroutine. Viele Eltern von Asperger-Kindern verbringen die Zeit nach dem Abendessen damit, ihr Kind alle fünf Sekunden daran zu erinnern, dass es sich fürs Bett fertig machen soll – mit dem Resultat, dass ihr Kind auch nach einer halben Stunde weder ein Pyjama anhat noch die Zähne geputzt sind. Mein zwei Tipps lauten:

Weniger Reden

Asperger-Kinder fühlen sich durch konstantes Zutexten sehr gestresst. Es reicht, wenn Sie Ihr Kind nach fünf Minuten nochmals daran erinnern, dass es sein Pyjama anziehen soll. Die Zwischenzeit können Sie dazu nutzen, einen Tee zu trinken oder die Geschirrspülmaschine einzuräumen. Bei jüngeren Kindern besteht natürlich auch die Möglichkeit, die Sache einfach selbst in die Hand zu nehmen, indem Sie dem Kind liebevoll und ohne grosse Worte helfen, sich umzuziehen.

Klare Anweisungen Schritt für Schritt

Es ist keine gute Idee, dem Kind mündlich eine Reihe von Aufträgen auf einmal zu erteilen («zieh das Pyjama an, dann musst du die Zähne putzen und anschliessend noch aufs Häuschen»). Vor allem jüngere Asperger-Kinder sind noch nicht dazu in der Lage, sich diese Schritte in ihrem Arbeitsgedächtnis zu merken, sondern verlieren sich im Lauf der Dinge. Sie sind deshalb darauf angewiesen, dass man immer nur einen Schritt ankündigt.

Checkliste

Eine visuelle Checkliste, auf welcher der Ablauf ersichtlich ist, kann sich in solchen wiederkehrenden Situationen als sehr hilfreich erweisen. Dies liegt daran, dass Asperger-Kinder visuelle Informationen besser verarbeiten können als gesprochene Sprache. Am besten bewähren sich Checklisten, auf welchen die erledigten Schritte abgehakt werden dürfen. Daran kann sich Ihr Kind selbständig orientieren und verinnerlicht vielleicht sogar den Ablauf nach einer Weile.

 

Um den Prozess zu beschleunigen, können Sie Ihrem Kind eine kleine Belohnung in Aussicht stellen. Wenn wir bei dem Beispiel der Abendroutine bleiben, dann könnten Sie sagen: «Wenn du auf der Checkliste alles abgehakt hast, dann lese ich dir noch eine Geschichte vor.» Dann trinken Sie in Ruhe einen Tee und warten.

Fortschritt in kleinen Schritten

Ist Ihr Kind noch nicht bereit, den Schulweg alleine zu gehen? Dann helfen Sie ihm, indem Sie es zu Beginn noch den ganzen Weg begleiten und dann in Mini-Schritten den begleiteten Teil des Weges verkleinern (anfangs sind es vielleicht nur ein paar wenige Meter). Kündigen Sie den neuen Punkt, an dem Sie sich von ihm in Zukunft verabschieden werden, immer schon einen Tag vorher an, damit es sich an den Gedanken gewöhnen kann. Wenn sich Ihr Kind vehement dagegen wehrt, probieren Sie es einfach in ein paar Wochen nochmals. Irgendwann werden Sie es sicher schaffen, Ihr Kind ein kleines Stück aus seiner Komfortzone zu locken. Oder vielleicht sagt Ihr Kind sogar irgendwann von selbst, dass es ein Stück des Weges alleine gehen möchte. Denken Sie immer daran: in ein paar Jahren ist Ihr Kind ein Teenager und Sie werden wehmütig an die Zeit zurückdenken, in der Sie es noch begleiten durften. Das ist zwar ein kleiner Trost, aber es hilft vielleicht, die jetzige Situation zu akzeptieren und zu erkennen, dass nichts im Leben so bleibt, wie es ist. Auch andere Probleme, wie zum Beispiel das Sauberkeitstraining, lassen sich mit kleinen Schritten angehen.

Den Glauben an Ihr Kind nicht verlieren

Haben Sie Vertrauen in Ihr Kind und in den Weg, den es machen wird.  Auch Asperger-Kinder entwickeln sich weiter, einfach in ihrem eigenen Tempo. Je älter sie werden, desto robuster sind sie und können mit unterschiedlichen Herausforderungen besser umgehen. So wird Ihr Kind ganz sicher eines Tages den Schulweg alleine meistern, einen Zahnarztbesuch aushalten oder sich abends selbständig fürs Bett parat machen können. Der grosse Unterschied zu Gleichaltrigen besteht darin, dass Ihr Kind länger braucht, um diese Schritte zu wagen. Sie können den Zeitpunkt nicht beeinflussen an dem es den nächsten Schritt macht, aber indem Sie Vertrauen in Ihr Kind setzen, zeigen Sie ihm, dass Sie an seine Fähigkeiten glauben und hinter ihm stehen. Denken Sie an das Sprichwort: «Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.»

Das Umfeld aufklären

Indem Sie offen mit der Diagnose umgehen, können Sie viele schwierige und unangenehme Situationen im Vornherein entschärfen. Wenn Ihr näheres Umfeld über die Diagnose Bescheid weiss, wird Ihnen und Ihrer Art, wie Sie Ihr Kind erziehen, mehr Verständnis entgegengebracht. Nach Aussen mag es vielleicht etwas seltsam wirken, dass Sie Ihr achtjähriges Kind noch auf dem Schulweg begleiten. Indem Sie der Lehrperson oder den Nachbarn erklären weshalb, werden Sie sicherlich weniger Kommentare und erstaunte Blicke dafür ernten.

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